Wer wir sind – und was wir wollen; Versuch einer Selbstbestimmung (2016):

Wohl wissend, nicht mehr (aber auch nicht weniger) als ein Mensch zu sein, ein Wesen also, das die Ursachen und Bedingungen für die Entstehung und Bewahrung seiner eigenen Existenz weltlichen Bedingungen verdankt, findet jedes einzelne Mitglied der Humanisten Rheinhessens (der Freien Religionsgemeinschaft Alzey, K.d.ö.R.) eine Sinn gebende Erfüllung in der Verwirklichung der bestmöglichen Lebensumstände sowohl für sich selbst als auch für seine Mitmenschen und alle anderen lebendigen Mitwesen, die mit ihm ihr Dasein teilen.

Im Bewusstsein der humanistischen Tradition und der eigenen Verantwortung auch für die kommenden Generationen geben sich freireligiöse Humanisten auf diese Weise eine auch im religiösen Sinne zugleich sinn- und wertvolle Aufgabenstellung und Deutung ihrer eigenen Existenz. Hierbei ist auch eine selbstbestimmte Fort- und Weiterbildung auf geistes- wie naturwissenschaftlichem Gebiet eine unabdingbare Voraussetzung für die Festigung und weitere Reifung der eigenen Persönlichkeit.

Die humanistische Gemeinde bietet den Einzelnen neben dem staatlich anerkannten humanistischen Religionsunterricht und der unterstützenden persönlichen Betreuung bei Grenz- und Ausnahmesituationen im persönlichen Lebenslauf (z. B. Geburt, Jugendfeier, Hochzeit und Tod) zudem im Rahmen ihrer Besinnungsstunden und der übrigen Veranstaltungen durch die persönliche Begegnung und den geistigen Austausch mit gleich und ähnlich Gesinnten einen Raum sowohl der Rück-Besinnung als auch der Motivation und Unterstützung für vorwärts gewandte Aktivitäten.

Über das Gesagte hinaus bedarf es keiner Glaubenslehren zur Erlangung einer persönlichen Seligkeit.

Bei aller Modernität stehen wir auf der traditionellen Grundlage unserer eigenen Gemeindegeschichte:

„Über das Fortleben der menschlichen Seele nach dem Tode des Leibes vermag uns keine Wissenschaft gründlich zu belehren; auch der Weiseste muss bekennen, darüber nichts zu wissen, und jede Schilderung des „Jenseits“ sagt uns nur, wie derjenige, welcher die Schilderung gibt, sich den „Himmel“ vorstellt, oder wünscht, dass er sein möge. Ebenso ist es mit gewissen Beschreibungen der sogenannten „Hölle“ und ihren erdichteten Bewohnern.

Wer die ihm zugemessene Lebenszeit redlich auskauft, wer gewissenhaft seiner Pflicht lebt, eifrig an seiner geistigen und sittlichen Vervollkommnung arbeitet, die ihm verliehenen Gaben und Kräfte nicht nur zu seinem, sondern auch zum Wohle seiner Mitmenschen anwendet: – der darf und wird vor dem Tode nicht erzittern, denn er trägt schon in sich selbst den Himmel …

Wir betrachten die Lehrschriften der protestantischen Kirche als wertvolle Dokumente und Glaubenszeugnisse unsrer Väter; aber wir gestatten nicht, dass man diese in einer weniger erleuchteten Zeit verfassten Lehrschriften zu Geistesfesseln des gegenwärtigen Geschlechts missbrauche; denn nimmermehr haben unsre Väter in ihren heißen Kampfe um Glaubensfreiheit gewollt, dass alle Nachkommen an den festgeschriebenen Buchstaben gebunden sein sollten. Wie sie einst protestierten gegen den päpstlichen Zwangsglauben ihrer Zeit, so protestieren wir gegen den Glaubenszwang unserer Zeit und führen als freie Protestanten das Geistesstreben unserer Väter seinem hohen Ziele näher.“

Chr. Elßner: Materialien zum Religionsunterricht (Alzey 1882) – Christian Elßner war Pfarrer unserer Gemeinschaft von 1877-1892.


Gustav Tschirn: Bekenntnis (1914)

Frei sind wir, also nicht gebunden,
durch Glaubenszwang in unsrer Religion.
Wir glauben, was wir selbst als wahr empfunden;
nicht, was uns vorschreibt eine Konfession.

Bekenntnis, Überzeugung sind uns nicht verkäuflich,
auch nicht um ew’ge Seligkeit und Himmelslohn.
Denn was uns unnatürlich scheint und unbegreiflich,
das nennen wir nicht „wahr“ aus Furcht vor Höllendroh’n.

Die Wahrheit bau’n wir auf die Wirklichkeit,
auf der Vernunft und der Natur Gesetze,
die ehern steh’n voll Unverbrüchlichkeit,
dass auch kein Gott durch „Wunder“ sie verletze.

Allmächtig, ewig, und unendlich,
allgegenwärtig in der kleinsten Spur,
unfassbar hoch und doch so nah verständlich,
das höchste Wesen ist uns – die Natur.

Die unerschaff’ne Schöpferin der Welten,
aus deren Schoß hervor die Sonnen gehen,
und die aus Sternentrümmern, aus zerschellten,
durch Welten-Nebel webt ein Welten-Aufersteh’n.

Sie lässt im Kreis auch uns’re kleine Erde rollen
und auf der Erde alles Leben blüh’n.
Daraus zuletzt, zuhöchst erwachsen sollen
wir selbst, das Menschenherz, des Geistes Glüh’n.

Entwicklung hat uns hoch empor getragen
tief aus dem Zellen-, Pflanzen-, Tieresstand
zum Aufrechtgeh’n, zum Sprechen, Denken, Wagen,
Zur Kunst- und Arbeitsfähigkeit der Hand.

Natur gab uns die sittlich hohen Triebe
des Einzelnen zu der Gemeinsamkeit,
zu Menschenrecht und -pflicht, zur Nächstenliebe,
dass jeder sich dem Großen, Ganzen weiht.

So leben wir mit Hoffen, Lachen, Weinen,
und schauen über unser’n Tod hinaus
der besser’n Zukunft stetiges Erscheinen
und atmen dafür unser Leben aus.

Doch vorher singen wir mit Jubeltönen,
was aus des Weltalls Tiefe zu uns spricht:
In uns der Geist des Guten, Wahren, Schönen
führt segnend höherwärts – durch Nacht zum Licht.

Der freireligiöse Pfarrer Gustav Tschirn (1865-1931) war um die Jahrhundertwende sowohl Vorsitzender des Bundes Freireligiöser Gemeinden Deutschlands als auch des Deutschen Freidenkerbundes.